Rosa Schlegel

Pflichtjahrmädel im Kleingeraer Rittergut vom 01.04. – 12.11.1940

Der Sommer 1940 in Kleingera

Rosa Gordzielik kommt aus Plauen nach Kleingera, um den Mitgliedern des „Vereins zur Erhaltung des Rittergutes Kleingera“ von ihrer Zeit als Pflichtjahrmädel zu erzählen – damals hieß sie noch Schlegel und wurde von allen nur Rosel genannt. Einen Teil ihres Pflichtjahres – vom 1. April bis zum 12. November 1940 – hatte sie bei der Familie Speck absolviert, den letzten privaten Gutsbesitzern.

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Erinnerungen

In Kleingera kam die Plauenerin zum ersten Mal mit dem Reichtum der Landherrschaft in Berührung. Das Kleingeraer Herrenhaus verfügte damals über eine Heizungsanlage, Bäder und Toiletten mit Wasserspülung, berichtete die Seniorin. Im Bad, das zum Schlafzimmer des Gutsbesitzer-Ehepaares gehörte, habe sie  zum ersten Mal in ihrem Leben ein Bidet gesehen. „Ich habe mich verwundert gefragt, wozu so ein Ding wohl gut ist“, erinnert sich die Plauenerin heute. Victor Speck, da ist sich Rosa Gordzielik sicher, besaß sogar ein Auto. Allerdings sei das gleich zu Beginn des Krieges von der Wehrmacht konfisziert worden. Von diesem Auto wurde der Plauenerin nur durch das Gesinde erzählt.

Irritiert war sie damals  über den unterwürfigen Ton, in dem man in Kleingera von und zu der Herrschaft sprach. Auch Rosel Schlegel sollte die Frau des Rittergutsbesitzers mit „gnädige Frau“ ansprechen. „Aber das kam mir nicht über die Lippen. Ich habe immer nur Frau Speck zu ihr gesagt. Das erste Mal hat sie da schon etwas verwundert geguckt, es aber akzeptiert.“ Da allerdings war die Plauenerin längst ins erste Fettnäpfchen getreten. „Ich kam in Kleingera an und klingelte am Hauptportal. Ich wusste doch nicht, dass nur die Familie des Gutsbesitzers und ihre Gäste das Haus durch diesen Eingang betreten durften. Wir anderen mussten den Kücheneingang nehmen.“

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Das Pflichtjahr sei so angedacht gewesen, dass man ein Mädchen für den befristeten Zeitraum in seine Familie aufnimmt, wo es die Hausfrau bei deren Aufgaben unterstützt. Rosa Schlegel  wurde nicht in die Familie Victor Specks aufgenommen, sondern in die Küche weiter gereicht, wo sie unter der Obhut der Mamsell vielfältige Aufgaben erledigte.

Noch heute erinnert sich Rosa Schlegel gern an die Pracht des einstigen Herrenhauses. „Das Haus war wundervoll. Man kam als erstes in eine riesige Halle. Von dort ging es rechts in die Bibliothek mit ihren langen Regalen voller Bücher. Es gab schöne Sessel. Und ich weiß noch genau, wie ich dachte, dass ich mir am liebsten sofort ein Buch heraus nehmen und losschmökern möchte. Aber das ging natürlich nicht.“ Rosa Schlegels Alltag in Kleingera war von Arbeit geprägt.

Aller 14 Tage bekam sie in der Regel einen Nachmittag frei. Nach dem Abwasch an jenen Sonntagmittagen beeilte sie sich, um das Postauto zu erwischen, das nach Netzschkau fuhr. 4, 5 Personen konnte dieses transportieren. So kam Rosa Schlegel zum Bahnhof, von dem aus sie mit dem Zug nach Plauen fuhr.  „Zwischen 15 und 16 Uhr war ich daheim bei meiner Mutter in meiner vertrauten Umgebung. Am nächsten Tag musste ich um 7 Uhr meinen Dienst im Rittergut wieder antreten. Ich fuhr mit dem Zug von Plauen nach Netzschkau und von dort mit dem Bus nach Kleingera.“ An solchen Montagen begann Rosel Schlegels Dienst eine Stunde später als gewöhnlich.

Normalerweise standen die Arbeiter der Specks 6 Uhr auf. Auch Rosa Schlegel. „Dann bin ich als erstes die Wiese runter gerannt und habe die Hühner raus gelassen.  Specks hatten über 100 Hühner, die in einem Haus untergebracht waren, das auf der Streuobstwiese stand. Wenn ich von dort zurück kam, haben wir erst einmal alle zusammen in der Küche gefrühstückt. Die Herrschaft saß natürlich nicht mit am Tisch.“

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Im Anschluss an das Frühstück gingen die verschiedenen Arbeiten los. Bis zum Abend wurde die Arbeit auf dem Rittergut zwei Mal unterbrochen. „Mittags um 12 haben wir warm gegessen. Es gab oft Eintopf. Die Mamsell hat sehr lecker gekocht.“ Für die Herrschaft im übrigen nicht extra. Die aß zwar nicht mit den Arbeitern am großen Tisch in der Küche, sondern ließ in ihrem eigenen Esszimmer auftragen. Doch vom Essen her gab es keinen Unterschied.

„Nachmittags wurde Kaffee getrunken. Dazu gab es Kuchen –  die Mamsell buk immer die großen runden, die in der Backstube der Bäckerei Müller rausgebacken wurden, oder Brot – zum Beispiel mit Marmelade“, erinnert sich Rosa Gordzielik.

Zu Rosa Schlegels Aufgaben gehörte das Servieren.  Das Frühstückszimmer der Specks, das sich im kleinen Anbau mit den Säulen und dem halbrunden Balkon befand, beschreibt sie so:  „Es war einfach wunderbar. Weiße, mit Gold verzierte Schleiflack-Möbel, die Stühle hatten dunkelblaue Samtbezüge, es gab einen dunkelblauen Teppich, in den Vitrinen stand hauchdünnes englisches Porzellan…“ An dieses Frühstückzimmer schloss sich in Richtung des Küchenanbaus das eigentliche Speisezimmer der Familie mit den vier großen Fenstern an. Zwischen dem Speisezimmer und dem Küchenanbau ging eine Treppe in den Garten. Ebenerdig, ehe man links das Haus Richtung Garten verlassen hat, befand sich ein Wasserspülklosett, das das Gesinde benutzte.

Auf dem Gutshof gab es neben den Hühnern auch Pferde, Tauben, Rinder und Schweine, viele Felder und auch Wald. Dafür, dass der Gutsbetrieb reibungslos funktionierte, sorgten neben dem Gutsbesitzer ein Inspektor, ein Verwalter und ein Vogt.

Der wunderbare Garten, der sich vom Haus zur Straße und zur Streuobstwiese hin erstreckte, wurde von zwei Gärtnern gepflegt. „Ich weiß noch genau, wie er angelegt war. Kein Unkraut war zu sehen. Die Kieswege verlockten zum Spazierengehen.“

Wenn es besonders viel Arbeit auf dem Gut oder auch im Herrenhaus gab, kamen Dorfbewohner zum Helfen. Rosa Schlegel standen in ihrem Pflichtjahr –  gesetzlich geregelt –  als Entgelt 18 Mark monatlich zu. Zuzüglich kostenfreier Logis und Verpflegung. „Specks waren großzügig. Sie haben mir 20 Mark gezahlt.“ Die Arbeit, die sie dafür erledigte, war vielseitig, wenn auch neu und ungewohnt für eine Städterin. Sie reichte vom Servieren über das Eier abnehmen und Putzen bis hin zu Küchen– und Erntetätigkeiten.

So sehr Specks auch auf den Rangunterschied achteten, sie seien human gewesen.  Rosa Gordzielik: „An einem Tag kamen polnische Fremdarbeiter, die dem Gut zugewiesen worden waren. Sie standen in der Küche –  sehr arme Leute, scheu, schlecht angezogen. Wir haben sie erst einmal mit an unseren Tisch genommen und ihnen zu essen gegeben. Das aber war verboten im Nazideutschland. Einen Tag später stand deshalb dann auch die SS in der Tür. Frau Speck hatte das mitgekriegt und kam in die Küche. Sie fragte, was denn vorgefallen sei. Und als die SS-Leute es ihr sagten, meinte sie ,dann verhaften sie mich am besten auch gleich, denn ich habe mit am Tisch gesessen‘. Das hat nicht gestimmt. Die Herrschaft aß nie mit ihren Angestellten und Arbeitern.  Aber die SS-Leute sind abgezogen und haben uns in Ruhe gelassen. Das Ganze hatte für uns keine Konsequenzen. Das habe ich Frau Speck hoch angerechnet.“

Etwas, was sich Abend für Abend auf dem Gut wiederholte, hat Rosa Gordzielik bis heute nicht verstanden. „Immer um 18 Uhr zum Glockenläuten kamen die Kleingeraer, um sich in der Gutsküche ihre Deputatmilch abzuholen. Die Mamsell stand dann mit einer großen Kanne da und hat die Milch in die Krüge der Menschen gefüllt. Wir aber haben dann wieder bei den Bauerngütern des Dorfes Milch geholt. Warum das so war, weiß ich nicht.“ Hatten alle Kleingeraer ihre Milch, war auf dem Gut Zeit fürs Abendbrot. „Danach, wenn wir  alle Tagesaufgaben geschafft hatten, konnten wir uns vor dem Schlafen gehen noch ein wenig in unser kleines Wohnzimmer setzen.“
In Nazi-Deutschland durften Kinder auch nur bis 20 Uhr allein, ohne Begleitung Erwachsener auf die Straße. Weil sie gegen diese Verordnung verstieß, handelte sich Rosa Schlegel gleich zu Beginn ihrer Zeit in Kleingera eine Verwarnung ein. „Ich war gerade auf dem Gut angekommen und wollte meinen Eltern mitteilen, dass es mir gut geht. Den Briefumschlag samt Marke hatte ich schon von zu Hause vorbereitet mitgebracht. Nach Arbeit und Abendessen wollte ich ihn zum Briefkasten bringen. Der war damals am Bürgermeisteramt angebracht. Das Haus stand nur ein paar Meter oberhalb des Gutshofes an der rechten Straßenseite. Als ich ihn einwarf, schlug die Turmuhr des Herrenhauses gerade 20 Uhr. Ich war also erst kurz nachher wieder auf dem Gutsgelände. Dafür wurde ich verwarnt.“

Viel Zeit verbrachte Rosa Schlegel in der Rittergutsküche, die vom Hof aus gesehen links an das Herrenhaus angebaut war. „Diese große Küche mit ihrem riesigen Herd und dem großen Esstisch hat mich begeistert.  Ein Teil des Raumes war immer auch für die kleinen Küken reserviert, die reingeholt wurden, wenn es draußen zu kalt für sie war. Das war sehr niedlich.“

Kam man von der Küche ins Haus, habe es einen großen Klingelkasten gegeben. Die Dienstbotenklingel. Rosa Gordzielik: „Dort waren alle Räume aufgeführt. Hat jemand von der Herrschaft geklingelt, wurde angezeigt, in welchem Raum er gerne jemanden vom Personal sehen will. Dann ist am Klingelkasten das Schild des Raumes runtergefallen, in dem geklingelt wurde, gleichzeitig ertönte ein Rufgeräusch.“

Zum Tag des offenen Denkmals, am 11. September 2011, kam Rosa Gordzielik erstmals wieder nach Kleingera. „Nach 71 Jahren sah ich das Gut  wieder. Ich war schockiert. Als mein Neffe im Gutshof das Auto stoppte, habe ich gesagt, dass ich am liebsten gar nicht aussteigen möchte. Der Anblick des Hauses war einfach furchtbar“, sagt die Seniorin. „Dieses Haus ist nur noch ein Schatten seiner selbst und hat nichts mehr gemeinsam mit dem prachtvollen Gebäude, das ich 1940 kannte.“

10. Oktober 2011

Aufgeschrieben von Daniela Hommel-Kreißl

Autorisiert von Rosa Gordzielik